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Tote haben viele Freunde. Praktisch Birdies gesamte Schule ist zur Beerdigung gekommen. Vom Parkplatz aus, wo Vater und ich sitzen, weil wir viel zu früh gekommen und fast in den falschen Gottesdienst geplatzt sind, sehen wir ein ganzes Heer Mädchen und Jungs zur Kapelle strömen. Fast alle tragen Schwarz, obwohl Valerie vorgeschlagen hat, dass die Leute in normaler, bunter Kleidung kommen sollen. Die ältere Generation ist dem Wunsch nachgekommen, aber die Jugendlichen sind abergläubisch. Ein paar Jungs haben keine Trauerkleidung und tragen stattdessen ihre Schuluniform. Ein paar Mädchen wischen sich schon die Augen. Ich sehe schnell weg: Ich kann es mir nicht leisten, jetzt schon zu weinen, wo es doch noch so viel schlimmer kommen wird. Eine kleine Welle geht durch die Menschenmenge, als der Leichenwagen vorfährt, blumenübersät wie ein Festwagen, und als ich diesen Kasten darin sehe, läuft mir ein eisiger Tropfen aus Furcht den Rücken herunter. Sich vorzustellen, dass der Deckel nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt ist. Aus dem Begleitwagen steigt Birdies Mutter, unsicher, auf den Arm einer Freundin gestützt. Ich habe sie als kräftigen, sportlichen Typ in Erinnerung, doch jetzt scheint sie geschrumpft zu sein - ihre Haut wie Stoff auf einem Stickrahmen; ein Husten könnte sie wegblasen. Selbst die größte der drei Hallen auf dem Friedhof ist nicht groß genug, und hinten gibt es nur Stehplätze: Vater und ich, die als Erste gekommen sind, gehen als Letzte hinein, und wir nehmen unsere Plätze an den Türen ein, die hinter uns geschlossen werden. Selbst in einem Augenblick wie diesem ertappe ich mich dabei, wie ich mich nach Rad umsehe, und mich erfüllt Scham und Selbstverachtung. Aber dort ist er, nur ein paar Reihen vor mir, neben Frances und Mr. Radley. Er hält den Kopf gesenkt, durchaus angemessen.
Birdies Mutter hat sich für eine weltliche Version des traditionellen Gottesdienstes entschieden. Wenn sie je gläubig gewesen ist, wird sie es jetzt sicher nicht mehr sein. Die Trauerfeier für Birdie wird von einem Mann in einer grauen Hose und einer Sportjacke mit Lederflicken an den Ellbogen abgehalten, der aussieht wie ein Lehrer. Er verrät sich sofort als Laie, als er den Mund aufmacht und erklärt, dass alle hier versammelt sind, um sich an das Leben von Elizabeth Cromer zu erinnern und es zu feiern. Als er »Elizabeth« sagt, wird die gesamte Gemeinde steif. Birdie hat ihren richtigen Namen nie benutzt. Die Hälfte der Anwesenden kennt ihn wahrscheinlich nicht einmal, aber niemand hat den Mut oder die Geistesgegenwart, ihn zu korrigieren, und er darf diesen schrecklichen Fehler noch verstärken, indem er die ganze Zeit von einer völlig Fremden spricht. Elizabeth wollte Anwältin werden; Elizabeth diskutierte gern über Politik; Elizabeths Freunde werden uns jetzt etwas vorlesen. Überall um uns herum spüre ich, wie die Leute sich jedes Mal, wenn der Name kommt, dagegen wappnen. Eine Schulfreundin von Birdie übernimmt das Pult, um ein Gedicht von Christina Rosetti vorzulesen, und eine andere liest »Fürchte nicht mehr Sonnenglut« mit einer Stimme, die nicht zittert.
In meiner Kehle ist ein Gefühl der Enge, das ich durch Schlucken nicht loswerden kann. Die mutigste Darbietung von allen kommt von einem etwa fünfzehnjährigen Mädchen, das mit einem zarten Sopran ohne Begleitung die Arie »Ach, ich fühl‘s« aus Die Zauberflöte singt, die schließlich die Dämme brechen lässt. Das Taptap ihrer Schuhe auf den Platten, als sie zu ihrem Platz zurückkehrt, wird von gedämpften Schluchzern und erstickten Lauten begleitet. Ich spüre, dass meine Augen zu brennen beginnen, und ein Prickeln oben in meiner Nase, das mich ein paar Sekunden vorwarnt, bevor die Tränen kommen, und jetzt, wo ich einmal zu weinen angefangen habe, kann nichts die Flut aufhalten.
Vor mir wischt sich Rad mit seiner Manschette über die Augen und sackt noch weiter nach vorn; Frances Schultern heben und senken sich. Die Hitze in der Halle ist unerträglich. In der Minute zum stillen Gedenken ertönt neben uns ein Poltern: Jemand ist ohnmächtig geworden und wird nach draußen getragen. Der plötzliche kühle Luftzug von der offenen Tür scheint das Salzwasser auf meinen Wangen in Säure zu verwandeln, und meine Haut lodert auf.
Obwohl wir unter den Ersten sind, die hinausgehen, halten Vater und ich uns zurück, bevor wir der Prozession zu der Grabstelle folgen. Es ist ein langer Weg über den Friedhof, und als der Sarg beim Grab angekommen ist, hat die Menschenmenge sich zu einer langen Reihe aufgelöst. Vater bietet mir ein großes, weißes Taschentuch an - eins von denen, die ich im Zuge des Beschäftigungstherapieprogramms meiner Mutter sorgfältig gebügelt habe. Auf dem Weg fällt mir auf, dass ein paar von Birdies Freunden mich von der Seite ansehen und über diese unerklärliche Ähnlichkeit verblüfft sind. Ich halte den Kopf hoch, trage meine Ähnlichkeit stolz zur Schau. Sollen sie sich ruhig wundern.
Die Leute stehen zu fünft hintereinander ums Grab herum, deshalb bleibt mir der Anblick erspart, wie der Sarg hinuntergelassen wird. Stattdessen sehe ich hinauf zum Himmel und beobachte, wie die wenigen Wolken über die Sonne geweht werden.
Wo bist du? denke ich. Während des Gottesdienstes ist nicht vom Jenseits gesprochen worden. Nur Birdies Vergangenheit darf eine Rolle spielen, was mir grausam erscheint. Bei einem Anlass wie diesem kann doch bestimmt auch ein Nichtgläubiger einen Hoffnungsschimmer zulassen? Auf dem Gras neben uns liegen mehr Blumen, als ich je gesehen habe: Die einzelnen Kränze und Sträuße sind dicht zusammengelegt worden, damit sie nicht die benachbarten Grabstellen überfluten; es sieht aus, als könnte man das ganze Gebilde an einer Ecke hochheben und übers Grab legen wie eine Flickendecke.
Mir wird erst klar, dass es vorbei ist, als die Menge sich langsam auflöst. Mädchen bilden Grüppchen, die sich aufeinander stützen; sie stecken die Köpfe zusammen wie Verschwörer. Weiße Taschentücher flattern im Wind wie Friedensfahnen. Vater seufzt schwer und zieht an seinem Bart; er denkt die Gedanken, die zu tief für Tränen liegen. Ich kann nicht mehr weinen, jedenfalls im Moment nicht. Ich fühle mich ausgewrungen wie ein alter Scheuerlappen. Auf dem Weg zum Auto kommen wir an Frances und Rad vorbei, die mir zunicken, wie jemandem, den sie einmal kannten.
In jener Nacht wache ich gegen vier Uhr morgens mit trockenem Mund und wild pochendem Herzen auf, weil eine große Platte aus Schmerz schwer auf meiner Brust lastet.
Ich habe die Vorhänge nicht richtig zugezogen, und von meinem Bett aus kann ich den Mond sehen, einen perfekten Halbkreis aus leuchtendem Weiß, und jenseits davon Nadelstiche aus Licht von Hunderten von Sternen, die vielleicht schon gar nicht mehr existieren. Und einen sehr kurzen Augenblick erkenne ich mit plötzlicher Klarheit, und mit jeder Faser meines Wesens, die ungeheure Weite des Universums und meine eigene unendlich kurze Zeitspanne auf dieser winzigen, sich drehenden Kugel aus Schmutz und Feuer, und ich verstehe zutiefst, was es bedeutet, für den Rest der Ewigkeit nicht zu existieren. Die Vision, wenn es das ist, halt nur ein paar Augenblicke an, und dann bin ich wieder ich, im Bett liegend, schweißnass, und mache mir auf die normale, abstrakte Art Sorgen um den Tod, die man ertragen kann und die uns alle vorm Wahnsinn bewahrt.
Ich sehe die Radleys nicht mehr wieder. Lexi ist weg, Rad geht zurück nach Durham, nehme ich an, und Francés irgendwohin, wo ihr ein Studienplatz angeboten worden ist, und als ich das nächste Mal am Haus vorbeikomme, hängt dort ein Schild »Zu verkaufen«.
Ich fange am Royal College an und ziehe in ein Studentenwohnheim in Kensington. Von meinem Fenster aus sehe ich das Natural History Museum und die Dächer von roten Bussen. Die Zimmer sind schachteiförmig und mit braunen Nylonteppichen ausgelegt, die sich so aufladen, dass ich jedes Mal, wenn ich die Türklinke anfasse, eine gewischt kriege. Das Bad ist eine fensterlose Zelle mit schwitzenden weißen Kacheln und schwarzen Schimmelblüten an Decke und Duschvorhang.
Meine Zellengenossin ist eine junge Frau namens Eva, die an der School of Hygiene and Tropical Medicine studiert. Sie hat einen Freund in Saint Albans und ist fast nie da. Sie hat eine Kaffeemaschine, die sie gewöhnlich abzustellen vergisst und die in der Ecke zischt und keucht und beißende Dämpfe ausstößt. Auf demselben Flur wohnen ein walisischer Lichenologe und ein Geologe, der so laut Heavy Metal hört, dass die Poster von der Wand fallen. Er gibt laute Partys, zu denen ich eingeladen werde, aber nie hingehe. Die Einladungen bleiben bald aus. Das sollen die besten Jahre meines Lebens sein.
Nach etwa einem Monat schickt mir Mutter einen Brief von Frances nach. Sie studiert Theater an einer TH im Norden und führt ein wildes Studentenleben. Sie und Nicky haben sich getrennt, und Frances hat einen neuen Freund. Ich ärgere mich über den triumphierenden Ton ihres Briefes, der weder eine Andeutung über die vergangenen Ereignisse noch eine Entschuldigung enthält. Ich gebe mir Mühe, eine Antwort zu verfassen, die nicht nach Vorwürfen und Selbstmitleid stinkt. Zu gegebener Zeit kommt ein viel kürzerer Brief, und dann nichts mehr.
Da ich nichts Besseres zu tun habe, arbeite ich hart, und meine Dozenten sind zufrieden mit mir. Sie loben meine Technik, Mrs. Suzansky, meine neue Lehrerin, sagt auf ihre geschwollene Art, dass ich das Cello mit einer Stimme voller Tränen zum Singen bringe.
Und was wurde aus meiner hoch geschätzten Jungfräulichkeit? Ich verlor sie an einen Kommilitonen namens Dave Watkins in seinem möblierten Zimmer nach einer Party am 28. Januar 1986. Ich erinnere mich vor allem deswegen daran, weil am selben Tag die Challenger explodierte und sowieso schon Trauerstimmung in der Luft lag.
Zufällig war ich im August 1996 mit dem Orchester in Rom, und an dem Tag, den Mr. Radley vor all den Jahren für unser Treffen festgelegt hatte, fühlte ich mich in einer neugierigen und nostalgischen Stimmung zur Spanischen Treppe und zu Keats‘ letzter Unterkunft hingezogen. Mr. Radley tauchte natürlich nicht auf, aber ich sah Keats‘ Schreibpult, seine Totenmaske und das McDonald‘s-Restaurant ein paar Meter von seiner Tür entfernt; da ich wusste, wie sehr das Mr. Radley erzürnt hätte, aß ich dort zu Mittag und trank mit einem gelben Milchshake auf sein Wohl.